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RE: Unser MenschSein - Thomas - 20.12.2015

Liebe Siam,

eine Neuauflage unseres Disputs über den Ärger würde momentan keinen Sinn machen, weil du glaubst, dass Ärger zur Natur des Menschen gehört und niemand stellt etwas in Frage, von dem er/sie glaubt, dass man das selbst ist.

Ich lege dir jedoch ans Herz, für dich selbst gründlich zu prüfen, was es mit Ärger auf sich hat und auch nicht zu übersehen, unter welchen Umständen Ärger auftauchen kann:

Katzenscheiße im Garten
Tageszeitung morgens nicht da
Mit-Autofahrer blinkt nicht
Joghurt am Tag des Kaufs schon abgelaufen
Freund gibt geliehenes Buch nicht zurück

Einfach endlos........

Welche Grenze wird hier genau geschützt? Sind die Konsequenzen des Ärgers tatsächlich schützend und bringen sie dir Frieden? Wenn du das guten Gewissens für dich bejahen kannst, dann ärgere dich, so viel du kannst ;-)

Ärger nach meinem Dafürhalten ist eine der wichtigsten Strategien des Ego, dich in Gefangenschaft zu halten. Denn wie du selbst sagst, wird dir dadurch eingeredet, es gäbe Grenzen in dir, die es zu schützen gilt. Und zwar dadurch, dass du dich deinerseits gegen das wendest, was dich angeblich ärgert.
Damit legst du selbst fest, dass du tatsächlich verletzbar bist und dass Verletzbarkeit deine Natur ist. Und damit nicht genug:

Zitat:sondern darum, alles in mir zunächst zu erlauben - aus dem Unbewussten aufzutauchen. Wie sonst will man frei werden/SEIN?

Genau das denke ich ja auch - keine Frage. Doch ist Ärger bereits die Abwehr deiner Verletzbarkeit. Wenn du wirklich in deinen Ärger hineingehen willst, musst du es zunächst aufgeben, diese Energie auf etwas oder jemanden zu richten, weil sich dahinter das Gefühl verbirgt, dass du dich angegriffen fühlst.

Erst hier wirst du fündig, was wirklich mit dir los ist und erst hier beginnt überhaupt eine ehrliche Hinterfragung, was denn wirklich geschieht, wenn du dich ärgerst. Und weil das Angst machen und sehr unangenehm sein kann, bevorzugt jedermann die Variante, Ärger sei natürlich und Ärger sei eine echte Gegenwehr, die einem zusteht. Damit wirklich lediglich niedergehalten, was wirklich weh tut: Deine innere Unsicherheit, deine Verletzbarkeit.

Das Ego bietet dir hier eine Lösung an, die nicht funktioniert. Es sagt: "Schau bloß nicht auf diese furchtbare Verletzbarkeit. Du kannst daran nichts ändern, denn so bist du nun einmal. Du kannst das nur loswerden, indem du diese Verletzbarkeit nicht bei dir siehst sondern den Grund dafür außerhalb von dir selbst suchst."
Und auf diese Weise hält es dich fern von echter Heilung und rät dir statt dessen, das Problem lieber zu verdrängen. Was aber unmöglich ist - es wird immer und immer wieder an die Oberfläche kommen. Mal ist es die Katzenscheiße, dann wieder der Joghurt u.s.w.

Dass deine Natur Verletzbarkeit ist, ist eine Lüge - ganz klar. Solange das geglaubt wird, hält man sich klein und schwach. Und so lange man klein und schwach zu sein glaubt, glaubt man an das Ego und seine Angebote. Das Ego sichert so sein eigenes Bestehen ab und es wird in seinen Fundamenten erschüttert, wenn man diese Verletzbarkeit zulässt und nicht mehr projiziert.

Daher habe ich auch eine klare Kritik an konventioneller Psychologie zu üben: Diese verkündet tatsächlich, dass Ärger gerechtfertigt ist, weil es innere Grenzen zu schützen gibt. Sie muss das auch tun, denn sie glaubt nämlich auch, dass Verletzbarkeit natürlich ist. Nur ganz wenige stellen das überhaupt in Frage. Konventionelle Psychologie ist auf Erhaltung eines Gleichgewichts aus und will innere Konflikte so umsortieren und zurechtrücken, dass sie nicht mehr so störend sind. Aber den Grundsatz, dass wir nun einmal verletzliche Wesen sind, will sie nicht anrühren. Diese Verletzbarkeit wird sogar als wichtige Eigenschaft des "Menschlichen" gesehen und es wird behauptet, dass wir gerade daraus unser Mitgefühl beziehen. Ein unverletzbarere Mensch ist überhaupt keiner! Das ist ein Monster, ein Gott, ein unnatürlicher Held!

Meine Überzeugung ist das nicht. Unverletzbarkeit ist das, was uns zusteht, unser natürliches Erbe. Unser SELBST kennt keine Verletzbarkeit.

Herz Thomas


RE: Unser MenschSein - Ikkyu - 20.12.2015

Verehrter Thomas ..... zu deinen Thesen: Sprichst du aus der eigenen Erfahrung eines "Erwachten", dass das "Verletzliche Menschsein" nicht unser Menschsein ausmacht oder ist es ein Konzept, eine Idee oder eine optimistische Weltsicht ?


RE: Unser MenschSein - ParaDoxa - 20.12.2015

Lieber Thomas, bei deinen Beispielen die du anführst bin ich ganz bei dir und deinen Schlüssen und Konsequenzen die du daraus ziehst.

Ich jedenfalls gehöre nicht zu den Menschen die durch deine Beispiele erwähnenswert verärgert wären.
Da gehört schon etwas mehr dazu.

Und es gibt durchaus Gründe des berechtigten Ärgers, die ich bereits in unserer letzten Diskussion ausgiebig erwähnt hatte.


Wenn du in einem Betrieb arbeitest, und dein Chef (ein Tyrann), unberechtigter Weise ständig deine Arbeiten als unpassabel bemängelt die du gewissenhaft verrichtet hast, und du vielleicht auch noch von dem Job abhängig bist, weil du eine Familie zu versorgen hast, und du weißt, dass auf dem Arbeitsmarkt diese Stellen rar gesät sind, könnte das ein Moment sein, wo irgendwann Ärger in dir aufsteigt. Wenn nicht schon vorher. :-))

Man muss quasi nur lange genug deine menschlichen Grenzen überschreiten......denn die gibt es durchaus, auch wenn das was wir sind unverletzbar und grenzenlos ist. In denke dieses Paradox lässt sich zu Lebzeiten nicht auflösen.
Zu glauben der Mensch sei irgendwann unverletzbar, halte ich für eine abgehobene Spirithese, ähnlich wie es Ikkyu anzudeuten versucht.
Es scheint eher ein Wunschdenken und fern der Realität zu sein, sich selbst als unverletzbar anzusehen. Da wird m.E. die wahre Natur mit der relativen Persönlichkeit gleichgesetzt, die jedoch ein Leben lang gewisse Bedürfnisse hat und reift.

Wenn du in einer Gruppe ständig unterbrochen wirst, sobald du etwas Wichtiges sagen möchtest, du aber durch die Unterbrechungen nie zu Wort kommst, taucht ganz automatisch früher oder später Ärger in dir auf. Dann wirst du entweder die Gruppe frustriert verlassen, und denken, die können mich alle mal, oder aber das Gefühl des Ärgers nutzen um dir -im doppelten Sinne- Gehör zu verschaffen.

Die Liste ließe sich ohne Ende erweitern.

Letzlich gilt es eben das Untersscheidungsvermögen zu schulen, wann Ärger sinnvoll genutzt werden kann und und wann nicht. Wann es einzig nur Triggerpunkt in mir ist, und wann ich für etwas einstehen möchte das mir wichtig ist, und mir tatsächlich zusteht.
Z.B. Ruhe, bei zu lauten Nachbarn.

Oder, wenn ein Vertragspartner sich nicht an die im Vertrag vereinbarten Abmachungen hält, kann das u.U. Ärger auslösen......und ja, dann kann man eben schauen, wie man weiter vorgehen möchte.....

Und das sind jetzt nur sehr milde Beispiele, für das was einem im Leben so begegnen kann. ;-))


Nach wie vor ist es dennoch ok für mich, wenn du die These vertrittst, dass Ärger immer und zu jedem Zeitpunkt falsch ist. Ich hab damit überhaupt kein Problem. Von daher müssen wir das auch nicht erneut aufrollen.
Herz


RE: Unser MenschSein - Thomas - 20.12.2015

(20.12.2015, 15:48)Ikkyu schrieb:  Verehrter Thomas ..... zu deinen Thesen: Sprichst du aus der eigenen Erfahrung eines "Erwachten", dass das "Verletzliche Menschsein" nicht unser Menschsein ausmacht oder ist es ein Konzept, eine Idee oder eine optimistische Weltsicht ?

Man muss nicht schon erwacht sein um zu begreifen, dass Verletzlichkeit selbst ein Konzept ist. Über eigene Erfahrung aber verfüge ich durchaus, weil der Glaube an die eigene Wertlosigkeit - was nichts anderes ist als Verletzlichkeit - mich einen großen Teil meines Lebens beherrscht hatte. Ich konnte diesen Glauben aufgeben, obwohl er mich vollständig in seinen Bann gezogen hatte - mit den entsprechenden negativen Konsequenzen. Und das hat mich jedenfalls eines ganz klar gelehrt: Jedes Konzept, das man über sich selbst hat und das nicht der Wahrheit entspricht, verursacht Leid in irgendeiner Form.


RE: Unser MenschSein - Thomas - 20.12.2015

Zitat:Es scheint eher ein Wunschdenken und fern der Realität zu sein, sich selbst als unverletzbar anzusehen. Da wird m.E. die wahre Natur mit der relativen Persönlichkeit gleichgesetzt, die jedoch ein Leben lang gewisse Bedürfnisse hat und reift.

Durchaus möglich, liebe Paradoxa, dass die vollständige Verwirklichung von Unverletzbarkeit für eine lange Zeit nicht erreichbar ist. Aber es geht nicht um eine Gleichsetzung der wahren Natur mit der relativen sondern um ein Entziehen der Voraussetzungen für die relative Natur. Wenn es so ist, dass die relative Natur ein Leben lang reift - dann wird ja auch irgendwann der Zeitpunkt kommen, an dem die Reife eingetreten ist?

Dass dieses Ziel innerhalb eines Lebens zu erreichen ist, ist durchaus nicht sicher. Aber es bleibt dennoch richtig für mich, dass ich aufhöre, Glaubenssätze zu vertreten wie "Ich bin meiner Natur nach verletzlich". Und an die Notwendigkeit von Ärger zu glauben, ist ein solcher Glaubenssatz. Tatsächlich ist dies eine höchst brisante Sicht auf sich selbst, die meiner Meinung nach zur Folge haben wird, dass die verletzenden Situationen im Leben mehr anstatt weniger werden.

Ich meine, Paradoxa und Ikkyu, welchen Kompromiss kann man denn hier schließen? Wir können annehmen, dass wir überhaupt keine Wahl haben und wir das Opfer der Welt sind, der wir als verletzliche Wesen ausgeliefert sind. Dann ist jede dieser Diskussionen sowieso für die Katz. Wir haben die Arschkarte gezogen und müssens eben aushalten. Was aber einen ziemlich üblen Gott voraussetzt.

Oder wir sehen die Dinge eben so, dass unser Zustand von etwas abhängig ist, das innerhalb von uns liegt. Genau können wir das nicht wissen, so wie die Dinge momentan stehen. Weder für das eine noch das andere. Aber wir können uns Rat von denen holen, die es wissen, einem Jesus, einem Buddha. Und wenn die uns sagen, dass es unsere eigenen Glaubenssätze sind, die uns das sehen lassen, was wir sehen, warum sollte man dann an der alten Sichtweise festhalten? Zumal wenn man feststellt, dass es funktioniert?

Woher kommt die relative Natur, Paradoxa, was ist ein Ego? Ein Bündel von Überzeugungen über sich selbst, sonst nichts. Es kann nicht 2 Wahrheiten geben, die beide wahr sind.


RE: Unser MenschSein - Thomas - 20.12.2015

Fortsetzung:

Zitat:Wenn du in einer Gruppe ständig unterbrochen wirst, sobald du etwas Wichtiges sagen möchtest, du aber durch die Unterbrechungen nie zu Wort kommst, taucht ganz automatisch früher oder später Ärger in dir auf. Dann wirst du entweder die Gruppe frustriert verlassen, und denken, die können mich alle mal, oder aber das Gefühl des Ärgers nutzen um dir -im doppelten Sinne- Gehör zu verschaffen.

Ja, das ist wahrscheinlich, dass diese Zurückweisung zu Ärger führen wird.
Aber diese beiden Möglichkeiten des Reagierens, die du aufzeigst, drücken beide dasselbe ungelöste Problem auf: Entweder verletze ich mich selbst oder ich verletze andere. Und darin, sich aus Ärger Gehör zu verschaffen, liegt Aggression.

Was das Problem tatsächlich anpacken würde ist die 3. Möglichkeit - nämlich zu erkennen, dass man hier eine Situation geschenkt bekommt, die dich mit deiner eigenen Verletzlichkeit in Kontakt bringt. Diese bei dieser Gelegenheit sehen und heilen zu können ist der konstruktive Weg. Er lässt dich erkennen:

Dass es bei dem Problem in der Gruppe gar nicht darum ging, dass du dringend etwas sagen wolltest und dass dies dann gehört wird sondern darum, dass du dich ausgeschlossen und dadurch verletzt fühltest, dich aber deinem Verletztsein nicht stellen wolltest. Statt dessen hast du die Gruppe dafür verantwortlich gemacht.

Deine Erkenntnis, dass es keinen Grund gibt, dich verletzt zu fühlen, lässt dich mit dir und der Gruppe in Frieden sein.

Ich habe, glaubs oder glaubs nicht, über Tausend Stunden Gruppenerfahrung in Selbsterfahrungsgruppen. Alleine schon 10 Jahre beim Arbeitskreis Leben als Supervision in meiner Eigenschaft als Begleiter von suizidgefährdeten Menschen. Außerdem viele Jahre Transaktionsanalyse in einer anderen Gruppe. Und nun kommts ;-)

Jeder Gruppenleiter (und bald auch die Teilnehmer) weiß, dass hinter Ärger immer Verletzung steckt. Immer. Ohne Ausnahme. Ob es nun Katzenscheiße ist oder die Frustration, übersehen zu werden - spielt überhaupt keine Rolle. Der Anlass ist nie das, um was es wirklich geht... darauf kommt es an. Es gibt 10. Mio Gelegenheiten im Leben, verärgert zu sein. Dahinter steckt aber immer deine Verletzbarkeit. Und um bei der Gruppe zu bleiben - aufgelöst wird das Dilemma niemals dadurch, dass der Ärger auf irgendeine Weise ausagiert wird. Entweder, das Dilemma bleibt bestehen oder die Verletzung bricht sich Bahn und wird erkannt. In diesen wertvollen Augenblicken wird eine Abwehr plötzlich schwach und bricht zusammen und... ich möchte solche Augenblicke schon heilig nennen, weil die ganze Gruppe davon erfasst wird. Denn plötzlich spürt jeder, dass wir in diesem Punkt alle gleich sind. Wir alle laufen ständig vor dieser Verletzlichkeit davon - wie klar man das plötzlich sehen kann!

Aber sie gehört überhaupt nicht zu uns. Es sind längst vergangene alte Geschichten, die niemals richtig beendet wurden, die sich da zu einem undefinierten Gewoge aus Schmerz zusammengezogen haben. Auf der Suche nach Erlösung von diesem Schmerz versuchen wir viele Rezepte, aber keines wirkt so richtig. Aber nur, weil wir uns dem nicht ausliefern wollen sondern es vorziehen, ihn hinter Ärger zu verstecken. Jedes Mal, wenn du dich ärgerst, wurde eine Erwartung von dir enttäuscht. Der Schmerz erzeugt ein Mangelgefühl und dieses erzeugt Erwartungen. Aber das, was man erwartet trifft nicht ein - so kehrt der Schmerz zurück, wird abgewehrt und Ärger ist das Resultat.

Zum Abschluss ein Zitat aus KIW: "Du ärgerst dich nie aus dem Grund, den du meinst."


RE: Unser MenschSein - ParaDoxa - 20.12.2015

Ja, das Gefühl dahinter sollte natürlich immer auch gefühlt werden, das ist ja klar und nicht die Frage.
Mir sind all die Zusammenhänge sehr gut bekannt, Thomas.
Von geheilten Verletzungen -und schau bei dir selbst- kann ich nicht nur Lieder sondern ganze Arien singen. lol
Ich bin -wie beim letzten mal- ein Schritt weiter in meinem Denken was das Thema betrifft.
Es gibt noch mehr als den Ärger in den Kontext von Verletzungen zustellen.

Ok, was machst du denn dann in dem Beispiel der Gruppe das ich nannte, und im Beispiel des Vertragsbruchs, sowie der Situation mit den zu lauten Nachbarn und dem Chef, anschließend?
Ganz konkret.

(20.12.2015, 19:35)Thomas schrieb:  Deine Erkenntnis, dass es keinen Grund gibt, dich verletzt zu fühlen, lässt dich mit dir und der Gruppe in Frieden sein.

Und weiter unterbrechen lassen? Nur eben in Frieden? ;-)
Ich wollte in einer solchen Gruppe gar nicht mehr bleiben, auch dann nicht, wenn mich das nicht verletzt.
Denn was sollte ich in einer Gruppe, in der ich mich nicht mit meinen Anliegen einbringen kann? Aus welchen Gründen auch immer. Ich würde mir ein anderes Umfeld dafür suchen. Damit macht man die Gruppe nicht verantwortlich, sondern man sieht ein, dass sie für einen selbst ungeeignet ist. (Nachdem man zuvor evtl. versucht hat, das Anliegen Gruppenintern zu regeln.)

Zum Vertrag, kann es gut sein, dass ich Klage einreichen würde, je nachdem worum es geht. Eine Verletzung muss nicht dahinter stecken, so wie du sagst, aber ärgerlich wäre das bestimmt dennoch.



Zum Abschluss auch von mir ein Zitat, ;-) dass ich schon damals einbrachte:

"Grundsätzlich ist Ärger ein gesundes Gefühl", sagt Prof. Dr. Verena Kast, ehemalige Psychologie-Professorin an der Universität Zürich und heutige Präsidentin des C. G. Jung-Instituts in Zürich. "Ärger entsteht, wenn jemand über meine Grenzen geht oder nicht zulässt, dass ich meine eigenen Grenzen erweitere", definiert die Wissenschaftlerin, "Ärger lässt sich gut nutzen, um zu erkennen, was falsch läuft. Man spürt Energien, um etwas zu verändern."

Wer die Wut nie rauslässt, dem drohen Depressionen

Frisst man den Unmut ständig in sich hinein und unterdrückt ihn, werden Stresshormone und Neurotransmitter ausgeschüttet, die nicht gleich wieder abgebaut werden. "Die Folge ist eine anhaltende Aktivität im limbischen System im Gehirn, speziell in der Amygdala, wo es die meisten Rezeptoren für Stresshormone gibt", sagt der Hirnforscher Prof. Dr. Hans Markowitsch von der Universität Bielefeld, "dies kann wiederum zu chronischen Veränderungen auf Hirn- und Verhaltensebenen führen". Depressionen und andere psychische Erkrankungen drohen.


http://www.spiegel.de/unispiegel/studium...04733.html 



Du siehst eben hinter jedem Ärger eine Verletzung, durch die eine -für dich- unberechtigte Reaktion ausgelöst wird, sobald der Verursacher zur Verantwortung gezogen wird, in dem der Betroffene sich verärgert zeigt, und Kritik an der Situation oder jenem Verhalten anbringt. Und das ist eben der Fehler in der Rechnung.
Würden alle so denken und nicht-reagieren, gäbe es keine Entwicklung mehr. Alles bliebe wie es ist - egal wie schräg es auch sein mag.
Wenn jemand in seinem Job ständig belästigt, gemobbt oder sonst wie mies behandelt wird, dann ist das nicht nur eine Frage nach der Verletzung die dadurch in demjenigen entsteht (was u.U. schlimm genug wäre) und/oder getriggert wird, sondern definitiv eine Aufforderung zur Handlung. Ärger kann hier ein guter Motor sein, der die Energien dazu (Veränderung) liefert.


RE: Unser MenschSein - Ikkyu - 20.12.2015

(20.12.2015, 18:30)Thomas schrieb:  Man muss nicht schon erwacht sein um zu begreifen, dass Verletzlichkeit selbst ein Konzept ist. Über eigene Erfahrung aber verfüge ich durchaus, weil der Glaube an die eigene Wertlosigkeit - was nichts anderes ist als Verletzlichkeit - mich einen großen Teil meines Lebens beherrscht hatte. Ich konnte diesen Glauben aufgeben, obwohl er mich vollständig in seinen Bann gezogen hatte - mit den entsprechenden negativen Konsequenzen. Und das hat mich jedenfalls eines ganz klar gelehrt: Jedes Konzept, das man über sich selbst hat und das nicht der Wahrheit entspricht, verursacht Leid in irgendeiner Form.

Verehrter Thomas, gedankt seien deine Zeilen. Bei all diesen Zeilen die du schriebst (und dabei natürlich den Standpunkt von "Wahrhaftigkeit" einnimmst) fehlt mir oft (nicht nur hier) eine klare Definition von dem, was Leiden oder Verletzlichkeit überhaupt ist. Auch du gehst ja von deinem eigenen Leben und deiner eigenen Erfahrung aus und Da werden ganz verschiedene Ebenen immer so vermischt, so dünkt es mich. Meiner Meinung nach siehst du das etwas utopisch, denn wenn ich den berühmtesten Erwachten betrachte, Shakyamuni Buddha, dann sehe ich, das auch ein Buddha Ärger empfinden konnte und diesen Ärger auch auf recht drastische Art und Weise zum Ausdruck bringen konnte ...


RE: Unser MenschSein - Thomas - 20.12.2015

Zitat: dann sehe ich, das auch ein Buddha Ärger empfinden konnte und diesen Ärger auch auf recht drastische Art und Weise zum Ausdruck bringen konnte ...

Man darf sich nicht davon täuschen lassen, Ikkyu, wenn etwas zum Ausdruck gebracht wird, was wie Ärger aussieht. Introspektiv gesehen handelt es sich dabei keineswegs um Ärger. Ärger setzt Identifikation voraus und ein Erwachter wäre kein Erwachter wenn er mit etwas anderem identifiziert wäre als mit dem, was er wirklich ist. Und Ärger gehört nicht dazu.

Jedoch - solange ein Erwachter in der Welt tätig ist, hat er ein perfektes Gespür dafür, wie eine Situation gerade ist und was sie benötigt. Und der Eindruck von Verärgerung kann dazu durchaus gehören.

Auch Jesus zerdepperte ja bekanntlich die Waren der Tempelhändler.

Zitat: fehlt mir oft (nicht nur hier) eine klare Definition von dem, was Leiden oder Verletzlichkeit überhaupt ist.

Verstehe ich sofort, ja. Eine solche Defintion kann es aus einem einfachen nicht geben. Leiden/Verletzlichkeit bezeichnet im Grunde einen Zustand des Nicht-bei-sich-seins oder Nicht-man-selbst-seins. Verstanden wird das erst, wenn dieser Zustand aufgehoben ist und das ist bei uns nicht der Fall. Aber auch dann wäre eine Definition nicht möglich, weil der zustand des Bei-mir-seins oder Ich-selbst-seins nicht definierbar ist, also auch nicht sein Gegenteil.

Wir können nur aus aus der Subjektivität unserer Erfahrung heraus feststellen, dass wir mit uns selbst uneins sind und etwas erleben, was wir nicht erleben möchten. Niemand will wirklich leiden.


RE: Unser MenschSein - Thomas - 20.12.2015

Zitat:Ok, was machst du denn dann in dem Beispiel der Gruppe das ich nannte, und im Beispiel des Vertragsbruchs, sowie der Situation mit den zu lauten Nachbarn und dem Chef, anschließend?
Ganz konkret.

Gruppe:

Wenn klar geworden ist, dass es eigentlich meine Verletztheit ist, die das Problem darstellte, verändert sich die ganze Situation.
Ich bin nun nicht mehr "darauf aus", dass man mir zuhört um nicht verletzt zu werden sondern nur deshalb, weil ich auf der Sachebene etwas beitragen möchte. Gelingt das nicht, macht es nichts.

Ich habe vorher vielleicht ärgerlich gesagt: Jetzt lass mich doch mal ausreden! Oder ich habe mich schmollend und mit verschränkten Armen gegeben. Glaub mir, dass das bemerkt wird! Und hier kommt etwas zum Tragen, das einem die Lebenserfahrung bestätigt: Das, was man unbedingt will, bekommt man nicht. Lässt man es los, bekommt man es mit Leichtigkeit.
Die Verärgerung hat sich auf die anderen übertragen, sie wurde bemerkt. Das löst in den anderen Gruppenmitgliedern ebenfalls Verärgerung aus - eine Spaltung entsteht.

Vertragsbruch:

Um diesen zu bemerken, ist kein Ärger nötig. Im Gegenteil wird es so sein, dass man dazu neigt, sich unnötig aggressiv aufzuführen und erzeugt so einen Trend der Eskalation. Zudem, wenn man im Freiden bleiben kann, erscheint der Vertragsbruch möglicherweise auch wenig wichtig oder sogar gar nicht wichtig. Dann nehme ich ihn hin und lasse die Sache auf sich beruhen. Es geht ja schließlich nicht darum, zu bestrafen oder sich als Richter aufzuführen. Ja, ggfs. ist eine Klage angebracht. Ärger brauche ich auch dazu nicht.

Laute Nachbarn:

Boahhh Unverschämtheit! Um diese Zeit so ein Lärm!!
Meist ist es hier genau das Gefühl, dass jemand meine Grenzen überschreitet und mich aufkochen lässt. Aber ich kann die Grenzen auch anders ziehen, wenn ich das will.
Ist der Ärger erst mal da, bringt er das Gefühl der Empörung gleich mit und den Impuls, dass sofort etwas unternommen werden muss, um diese Unverschämtheit abzustellen.
Auch hier gilt: Nicht ärgerlich zu werden ermöglicht völlig andere Lösungswege. Geht man ärgerlich zum Nachbarn, merkt der das sofort und die Gefahr ist groß, dass es zu einer Eskalation kommt.

Ich sage mir dann als erstes immer: Ich fühle zwar gerade, dass dies gegen mich gerichtet ist, aber wissen tue ich es nicht. Es ist eine Annahme. Wahrscheinlicher ist, dass der Nachbar nicht weiß, dass er zu laut für mich ist.

Sehr oft relativiert sich durch eine solche Herangehensweise das Problem schon ganz erheblich und oft ist es dann keines mehr.

Kann ich nicht mehr richtig schlafen oder meine kleinen kinder oder kann ich mich nicht mehr ungestört unterhalten, handele ich. Ich erkläre dem Nachbarn ruhig das Problem. Ändert sich nichts, kann ich versuchen, ein weiteres Gespräch zu führen. Aber es gibt Menschen, die rücksichtslos sind und die es nicht interssiert, ob sie Probleme verursachen.

Dann hilft nur abwägen. Wie wichtig ist mir das Problem? Kann ich vielleicht doch damit leben? Ziehe ich besser aus? Aber einen Kleinkrieg würde ich niemals führen. Der würde meine Lebensqualität eindeutig mehr beeinträchtigen als das Problem selbst.

Chef: Spare ich mir, da würde ich ganz ähnlich antworten.

Für mich gilt immer: Ärger verringert die möglichen Optionen und birgt immer die Gefahr einer Eskalation. Einzige Ausnahme wäre die Gewissheit, dass ich es mit jemandem zu tun habe, der nur auf Ärger reagiert. Dann würde ich mich ärgerlich geben. Aber das ist noch nie vorgekommen.

Weiter gilt für mich: Innere Ruhe und Frieden sind meine wichtigsten Ziele und meine höchsten Werte. Ich setze sie nicht durch Ärger aufs Spiel. Lieber habe ich nicht recht, werde halt verarscht und "verliere" in den Augen konventioneller Sichtweisen. Ich für mich weiß, dass ich gewinne.

Zitat:"Ärger entsteht, wenn jemand über meine Grenzen geht oder nicht zulässt, dass ich meine eigenen Grenzen erweitere", definiert die Wissenschaftlerin, "Ärger lässt sich gut nutzen, um zu erkennen, was falsch läuft. Man spürt Energien, um etwas zu verändern."

Diese Aussage ist für mich einfach nicht stimmig. Ich bestreite schlichtweg, dass Ärger ein notwendiges Instrument dafür ist um zu erkennen, dass etwas falsch läuft. Ärger zeigt nur an, dass man sich angepisst fühlt und sonst nichts. Und genau dann denkt man, es laufe etwas falsch. Würde man eben nicht ärgerlich werden, wäre da auch nicht das Gefühl, dass etwas falsch läuft. Was meinst du, wie viele Dinge plötzlich einfach akzeptabel werden, wenn man sich nicht mehr über sie aufregt! Was hat man dann verloren? Nichts, man hat was gewonnen.

Was läuft denn genau falsch, wenn Katzenscheiße herumliegt? Der Ärger selbst ist das Problem, nicht die Katzenscheiße. Solche Überlegungen vermisse ich einfach bei Aussagen wie dort oben. Wenn ich Katzenscheiße dort nicht akzeptieren kann, räume ich sie weg. Wozu brauche ich um Himmels Willen zur Katzenscheiße denn noch Ärger?

Was ist denn mit den vielen Leuten, die sich über jede Kleinigkeit aufregen können? Glaubst du wirklich denen wird angezeigt, dass etwas schief läuft? Was da schief läuft ist, dass ihr Ego sie am Wickel hat, sonst nichts.

Du liebst deinen Ärger, deshalb verteidigst du ihn. Du glaubst fest daran, dass er für dich eine wichtige Funktion erfüllt. Aber alles was eintritt, wenn man ihn verlernt (und das kann man!) ist Erleichterung und Befreiung. Da wird nichts nicht mehr bemerkt. Im Gegenteil fällt die Einengung des Denkens und Fühlens durch Ärger weg. Man hat mehr Optionen, findet intelligentere Lösungen, ist nicht mehr abhängig davon, dass alles klappt. So vieles wird akzeptabel und darf so sein, wie es halt ist. Warum eine persönliche Sache daraus machen?

Ärger versklavt dich und du stimmst dem zu. Entzieh dem Ärger deinen Segen und schick ihn zur Hölle, von wo er kommt. Du wirst profitieren!