Eine Kolumne von Michael Nast 05.12.2022
Warum die Gesellschaft eine Therapie braucht – und nicht wir.
Seit Jahren werden immer mehr seelische Erkrankungen diagnostiziert. Das hat Gründe. Warum die Gesellschaft, in der wir leben, dringend einer Psychotherapie unterzogen werden muss.
Anfang des Jahres erzählte mir mein Freund Erik, wie schwer es ihm seit Wochen fiel, morgens aufzustehen. Sein Geständnis überraschte mich. Erik ist in einer Langzeitbeziehung, seit einigen Jahren Familienvater, hat kürzlich ein Haus gekauft und kennt als Geschäftsführer einer Werbeagentur keine finanziellen Nöte. Es ist alles da. Die Zutaten, aus denen sich Glück zusammensetzen soll. Trotzdem liegt er jeden Morgen in seinem Bett und blickt mit einem ohnmächtigen Gefühl auf die Erledigungen des Tages.
Das war beunruhigend, auch weil Eriks Leben ja auch meinen Sehnsüchten entspricht. Er ist weiter als ich. Eigentlich müsste er glücklich sein, zumindest glücklicher als ich. Aber die Zutaten zum Glücklichsein scheinen nicht zu wirken.
„Stress gibt’s ja irgendwie immer“, wischte er das Thema beiseite. „Ist sicher nur eine Phase.“
Die Phase hielt sich allerdings länger, als er angenommen hatte. Vergangenes Wochenende gestand er mir, dass er erste Anzeichen einer Depression in seinem Alltag identifiziert hat. Sein Geständnis klang, als hätte er einen inneren Widerstand überwinden müssen, um sich so etwas überhaupt eingestehen zu können. Seelische Erkrankungen widersprechen seinem Selbstverständnis. Bisher hatte er Depressionen eher als Laune abgetan oder als Ausrede, um Faulheit zu rechtfertigen. Erik ist jemand, der in solchen Fällen Ratschläge wie „Reiß dich mal zusammen“ oder „Lach doch mal“ gibt. Und sie für gutgemeint hält. Auch wenn er sie sich selbst gibt.
Erik hat sich zusammengerissen. Er hat weitergemacht. Er ertrug die Belastungen seines Alltags, weil davon überzeugt war, dass die Phase irgendwann enden würde. Aber sie endete nicht. Sie dehnte sich aus und verdichtete sich. Bis sie seine Normalität bestimmte.
Unsere „Normalität“ ist seelisch erkrankt
Mit dieser Normalität ist Erik nicht allein. Seit Jahren überschwemmen seelische Erkrankungen unsere Gesellschaft. Ein Strom, der seit Jahren stärker wird. Da stellt sich die Frage, worauf die Psyche von immer mehr Leuten reagiert.
Ende August saß ich mit einem Freund, der erst am Vortag von einer mehrwöchigen Bali-Reise zurückgekehrt war, auf der Dachterrasse des Berliner Soho House.
„Es ist unerträglich“, sagte er. „In Deutschland spüre ich sofort dieses Stresslevel. Als wäre Stress hier irgendwie Teil der Atmosphäre.“
„Ist das so?“, fragte ich. Ich fand es schon erstaunlich, dass es mir nicht einmal auffiel. Aber genau genommen war es nur folgerichtig. Ich blickte ja aus dem Alltag heraus, dem mein Freund erst seit einigen Stunden ausgesetzt war. Ein Grundrauschen, das für mich selbstverständlich war.
Ich kenne nicht wenige Leute, die Stress als Wert empfinden. Stress ist zu einem Statussymbol geworden. Wer etwas auf sich hält, hat viel zu tun. Wer Erfolg hat, hat keine Zeit.
Erik hat keine Zeit. Sein Arbeitstag endet nie, mit dem Smartphone hat er das Büro immer dabei. Für das Einfamilienhaus, das er gerade gekauft hat, hat er einen Kredit aufgenommen, den er abzahlen muss. Seine Frau macht ihm Vorwürfe, dass er sich zu wenig Zeit für die Familie nimmt. Seine Tage, Wochen und Monate fügen sich aus einer Aneinanderreihung kleiner und großer Krisen, Stresssituationen und Widrigkeiten des Alltags zusammen. Wir sind eine Wohlstandsgesellschaft – eine glückliche Gesellschaft sind wir nicht
Wenn ich unsere Leben verglich, fand ich es schon bemerkenswert, wie unterschiedlich wir den Stress unseres Alltags erleben. Ein Psychologe hat mir mal erklärt, dass es zwei Arten Stress gibt. „Positiven Stress empfinden wir als angenehm“, sagte er. „Der Mensch wird von Herausforderungen angezogen. Ein Problem zu lösen, macht ihm Freude, weil es seinem Wesen entspricht.“
Wenn ich ein Buch schreibe, ist das positiver Stress – die Recherchen, das Schreiben, das Ziel, es irgendwann abzuschließen. Es ist eine Herausforderung, die mir beherrschbar erscheint, auch wenn sie Monate dauert. Was Erik dagegen kultiviert, ist negativer Stress. Eine unbeherrschbare Herausforderung, die nie endet.
Negativer Stress gilt als Hauptursache für Depressionen – und unsere gesellschaftliche Wirklichkeit ist mit unzähligen negativen Stressfaktoren durchsetzt.
„Wir sind eine Wohlstandsgesellschaft – eine glückliche Gesellschaft sind wir nicht. Stress, Angst und Unsicherheit bestimmen unser Leben auf der Jagd nach Geld und Erfolg. Schuld ist die einseitige Fixierung auf ökonomisches Wachstum, die Politik und Wirtschaft bestimmt.“ Das hat der Wirtschaftswissenschaftler Richard Layar geschrieben.
Damit beschreibt er die Atmosphäre, in der wir uns in den westlichen Wohlstandsgesellschaften bewegen, ziemlich gut. Das ist „Normalität“, die uns umgibt. Wenn eine psychische Belastung die Normalität erreicht, wird sie nicht mehr wahrgenommen. Wenn sie notwendig ist, um in dieser Normalität erfolgreich zu sein, kann sie sogar als Tugend missverstanden werden. Dann verteidigt man sie, obwohl man unter ihren Folgen leidet. Und rechtfertigt sie damit, dass alle mitmachen.
Die seelisch erkrankte Gesellschaft – und was sie mit uns macht
Seit einigen Jahren häufen sich ja Artikel, in denen Ratschläge gegeben werden, wie wir mit dem täglichen Stress besser umgehen können. Eine Freundin liest mir gelegentlich solche Artikel vor. Als wir gestern telefonierten, sagte sie: „Man soll sich zwingen, mindestens zehn Minuten am Tag laut zu lachen“, sagte sie.
„Durchgehend?“, fragte ich, und stellte mir unwillkürlich vor, wie meine Freundin vor einem Spiegel stand, und sich zu lautem, hemmungslosem Gelächter zwang. Die Vorstellung war verstörend.
Ich meine, ich verstehe schon, was solche Ratschläge bewirken sollen. Sie sollen ein Ausgleich sein, ein Ventil. In solchen Artikeln wird jedoch eine Frage nicht gestellt: ob man sich an eine gesunde oder krankhafte Lebensweise anpasst. Sie wird als Normalität wahrgenommen. Das hat sie unsichtbar gemacht, obwohl die meisten tagtäglich ihre Folgen spüren.
Man muss es ganz klar sagen: Seelische Erkrankungen sind Nebenwirkungen. Sie sind Langzeitfolgen unseres Lebensstils. Sie sind Symptome. Sie entstehen aus Unsicherheit, Selbstzweifeln, Einsamkeit, Angst und Stress. Viele halten diese Folgen allerdings für die Erkrankung selbst. Es ist dieses Missverständnis, das die Frage nach der eigentlichen Krankheit ersetzt hat – durch die Frage, wie man ihre Symptome abmildert. Mit Antistress-Programmen, Achtsamkeits- oder Entschleunigungsseminaren behandeln wir die eigentliche Krankheit ausschließlich mit Schmerzmitteln. Bis die Schmerzmittel nicht mehr wirken.
Die Gesellschaft braucht eine Psychotherapie
Wie eine Zimmerpflanze reagiert ja auch unsere Psyche auf eine schädliche Umgebung. Wenn eine Pflanze nicht gedeiht, ändert man ihre Lebensumstände, damit sie sich gesund entfalten kann. Man stellt sie an einen helleren Standort oder gibt ihr mehr Wasser. Aber wenn eine Person psychisch erkrankt, versucht man sie so zu verändern, dass sie die schädlichen Lebensumstände besser erträgt. Eine groteske Fehleinschätzung. Wenn eine Gesellschaft seit Jahrzehnten immer mehr psychische Erkrankungen produziert, sollten nicht ihre Mitglieder therapeutisch behandelt werden – dann sollte man die Gesellschaft einer Psychotherapie unterziehen.
Aber diese Fehleinschätzungen haben natürlich schlüssige Gründe. Es ist ja nicht so, dass der seelisch gesunde Mensch im Mittelpunkt unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit steht – sondern das reibungslose Wachstum unseres Wirtschaftssystems. Wir sollen funktionieren. Denn dieses Funktionieren hat den materiellen Wohlstand, in dem wir in den modernen westlichen Gesellschaften leben, erst möglich gemacht. Darum werden seelische Erkrankungen nicht als Reaktion der Psyche auf einen krankhaften Lebensstil gesehen, sondern als eine Art Funktionsfehler. Die meisten Therapien beruhen auf diesem Missverständnis. Sie sind darauf ausgerichtet, Funktionsfehler zu beheben, damit eine seelisch erkrankte Person wieder funktionieren kann. Der funktionierende Mensch ist immer der Maßstab für das Behandlungsziel. Aber nicht der perfekt funktionierende – sondern der seelisch gesunde sollte doch eigentlich der Maßstab sein.
Wir Lifestyle-Gestörten
Erik funktioniert immer noch. Er plant immer noch keine Therapie. Er macht weiter. Weil er seine Firma so führen muss, damit das Einkommen stimmt. Weil er den Lebensstil seiner Familie finanzieren muss. Weil er sein Haus abbezahlen muss. Es fällt mir schwer, das aufzuschreiben, aber Erik erinnert an ein Auto, das in Zeitlupe auf einen Baum zurast. Zum Therapeuten wird er erst gehen, wenn er dazu gezwungen sein wird. [i]Nach[/i] dem Aufprall. Wenn sich die Frustrationen des Alltags endgültig über den Sinn geschoben haben, für den es sich lohnt, jeden Morgen aufzustehen.
Im Gegensatz zu Erik bin ich weder niedergeschlagen noch fühle ich mich von meinem Alltag überfordert. Auf den zweiten Blick sieht das allerdings schon anders aus. Mein Liebesleben ist mit Ängsten durchsetzt, ich wehre mich gegen alle Einflüsse, die meine Arbeit einschränken könnten. Auch ich funktioniere. Auch ich bin gestört. Genauso wie die meisten von uns. Und genauso wie die meisten habe ich es lange nicht registriert.
Ich habe eine Lifestyle-Störung, denn meine Lebensweise ist gestört. Erik und ich befinden uns nur in unterschiedlichen Ausprägungen dieser Störung. Wir brauchen beide eine Therapie. Keine Therapie, in der es darum geht, Symptome abzumildern. Sondern eine Therapie, die ein anderes Bewusstsein schafft, wie wir ins Leben zu blicken. Ein Bewusstsein, das sich am Wesen des Menschen orientiert – und nicht an den Bedürfnissen, die uns die Marktwirtschaft vorgibt, um weiterhin wachsen zu können.
„Die Psyche meldet sich zu Wort, wenn wir unser Leben verfehlen.“ Das hat die Psychotherapeutin Hanne Seemann mal im Interview mit dem Spiegel gesagt. Und sie meldet sich nicht erst, wenn sie gekippt ist.
Wie die meisten brauche ich ein Bewusstsein dafür, dass ich ein ernsthaftes Problem habe, an dem ich arbeiten müsste. Um schon den Anfängen entgegenzuwirken. Um zu verhindern, dass aus einer Lifestyle-Störung eine Lifestyle-Depression wird. Eine Therapie machen zu wollen ist etwas anderes als eine Therapie machen zu müssen. Etwas vollkommen anderes.